In der Oper „Les Pêcheurs de Perles“ singt Nadir in einer ceyloner Abendstimmung von seiner Erinnerung an eine Priesterin. Ihr Gesang war betörend, er verliebte sich. Gerade eben glaubte er den Klang dieser Stimme wiedergehört zu haben, verträumt gibt er sich seinem Liebestraum hin. Über einer die Exotik spiegelnden Begleitung erhebt sich die Melodie: Ein tenoraler Traum in höchster Lage. Die Nacht und den Traum beschwörend gleitet die Stimme bis hin zum hohen H, von Bizet notiert mit einem subito piano. Da sich die Lage der Melodie bereits längere Zeit nur in der hohen Lage bewegt hat, ist es unglaublich schwer, eine geöffnete Kehle zu behalten und seine Stimme klangvoll und frei verströmen zu lassen. Bei Nicolai Gedda klingt dies mirakulös einfach, selbstverständlich, natürlich – und damit trifft er genau diese Stimmung eines träumend einschlafenden Mannes. Technisch gesehen eine exzellente Meisterleistung, dank der Kunst der „Voix mixte“.
Diese Kunst besteht darin, den Anteil des Bruststimmenklangs allmählich mit dem der Kopfstimme zu mischen. Damit gewinnt die Höhe des Tenors Geschmeidigkeit, Glanz und Flexibilität, um auch in der höchsten Lage dynamisch variabel singen zu können. Ein piano auf hohen Tönen ist ein Zeichen von technischer Meisterschaft. Ein hohes B, H oder C im forte singen zu können, ist schon klasse. In dieser Lage allerdings auch mezzoforte oder gar piano singen zu können, bedeutet den Unterschied zwischen sehr gut und phantastisch. Einen frei schwingenden Gesangston in dieser Lage zu erzeugen, der tragfähig im Raum ist, vielleicht sogar zum forte entwickelt werden kann, oder andersherum vom forte zum piano (Messe di voce), zeigt den Sänger aus dem Olymp. Dort residiert Nicolai Gedda!
1967 hat Herr Gedda ein Album produziert mit Arien aus slawischen Opern. Darin findet sich alles, was seine Meisterschaft ausmacht. Vor allem die Arie des Sobinin „Brüder! Im Sturm“ aus „Ein Leben für den Zaren“ vereint bravouröse Höhe, dynamische Flexibilität in Höhe und Tiefe, Kraft und Sensibilität, Stil und Sprachkenntnisse in unglaublicher Perfektion. Mit 42 Jahren befindet sich der Tenor auf dem Zenith seines Könnens.
Ein weiteres Manifest für die Weichheit der Stimme, den Sinn für Klanggestaltung und sensiblen Ausdruck ist die Arie des Gritzko „Mein Herz, mein armes Herz“ aus Mussorgsky „Jahrmarkt von Sorotchintzki“: Elegisch die piano-Bögen, auf sicherem Atem sowei Legato gesungen, die Entwicklung der Töne zum klangvollen forte, schließlich das grandiose Ende der Arie mit dem leise ausklingenden, schwebenden hohen B in einem perfekten mezza voce. Entgegen der heute eher zu hörenden verschatteten, im Hals sitzenden leiseren Töne, die ein piano suggerieren (letztlich jedoch technische Unfertigkeit zeigen, indem diese Töne nicht schwingend klingen können, meist erkennbar an dem Wackeln oder langsamen/fehlendem Vibrato), ist das piano bei Nicolai Gedda immer ein musikalischer, frei klingender Ton. Vom Sitz der Stimme her sind diese Töne in der Maskenresonanz im Kopf angesiedelt. Sylvia Geszty nannte diese Position das „Penthouse“ der Stimme. Nur hier gibt es Sonne im Klang, Helligkeit und damit Tragfähigkeit.
Ein Tenor, der sich stimmlich auch mal „austoben“ möchte, kommt an Rollen aus dem Bereich der Operette kaum vorbei. Wie schwer diese Musik zu singen ist, wenn man sie ernst nimmt, wenn man ihr gerecht werden möchte, können Sie bei vielen Sängern/Innen nachlesen, die Erfolge mit dieser Musik hatten. Und ein vergleichendes Hören von Sängern wie Richard Tauber, Fritz Wunderlich, Nicolai Gedda mit anderen zeigt den Unterschied zwischen Kunst und Können einerseits sowie Wollen und Oberflächlichkeit andererseits. Besonders die frühen Aufnahmen aus den 50er Jahren mit Elisabeth Schwarzkopf sind Zeugnis wahrer Musiker und Sangeskünstler. Wieder sind die Schwierigkeiten der Partien bei Nicolai Gedda niemals hör- bzw. spürbar. Im Gegenteil: Mit seiner melancholisch-weich timbrierten Stimme gelingen ihm Momente, welche berühren.
Es gäbe noch so viel zu schreiben und feiern an der Kunst aus dem riesigen Repertoire dieses großartigen Künstlers, dazu ein anderes Mal mehr. Wenn Sie Musik lieben und besonders Tenöre, dann wissen Sie es eh: In französischen Opern hat es in den letzten 50 Jahren keinen Tenor gegeben, der die Herausforderungen an die Stimme souveräner gemeistert hätte. Nicht nur das, bei Nicolai Gedda werde ich mir dieser Schwierigkeiten nicht einmal bewußt. Diesen Grad an Technik zu erreichen ist wahrlich einzigartig.
Wenn Nicolai Gedda heute seinen 90. Geburtstag feiert, dann gelten meine herzlichsten Glückwünsche nicht nur dem Menschen Gedda, sondern ganz besonders seiner unglaublichen tenoralen Meisterschaft!
Wohl kein Tenor hat derart viele verschiedenste Partien, Stile, Sprachen und entsprechende Herausforderungen auf einem solchen Niveau gemeistert wie er.
„Hier gilt’s der Kunst…“ – selbst bei Richard Wagner hat Herr Gedda mit dem Lohengrin eine Partie gefunden, welche er adeln konnte. Seine persönliche Grenze hat er genau hier gezogen. Nach seinen Vorstellungen 1966 in Stockholm hat er die bereits geplanten Termine in Bayreuth abgesagt. Begründung: „Das dauerhafte Singen dieser Partie schadet meiner Stimme!“ – Wer macht das sonst noch? Solche Sänger, die um ihre Fähigkeiten und Grenzen wissen sowie danach handeln, sind und waren immer schon rar. Sicherlich ist diese Klugheit ein wesentlicher Faktor für die überaus lange Karriere auf stimmlich hohem Niveau. Daher zum Schluß der „Abschied des Lohengrin“ von seiner geliebten Elsa, in München aufgenommen. Mögen manche Sänger mehr Kraft oder Metall in der Stimme haben, wer aber hat diese einzigartige Verbindung von Text und Musik, makellosem Legato, Ausdruck ohne Überdruck, silberne Farbe im Timbre, Träne im Klang: Nur Nicolai Gedda. Chapeau und noch viele Jahre bester Gesundheit!